Der Ausweg

 

In einer als Reihendorf angelegten Siedlung, die so lang gezogen war, dass man nicht erahnen konnte, wo der Anfang und das Ende sein sollte, besuchte ich einen Kleinbauern, der, nachdem die LPG aufgehört hatte zu existieren, mit den verschiedensten Nebenerwerben danach strebte, sein soziales Auskommen zu sichern.

   Jeder Bauernhof diesseits und jenseits der Dorfstraße, die einem Bächlein getreu folgte, hatte auf der Rückseite ausgedehnte Gärten und Felder, hie und da gepflockte Schafe, gelegentlich sah man auch mal einen Jungbullen. Bauernhöfe jenseits des Bächleins mussten ihre Zufahrt durch eine kleine massive Brücke, die auch schwere Fuhrwerke tragen konnte, ermöglichen. So galt die Ansiedlung als das Dorf mit den meisten Brücken.
   Als Grabmacher hatte ich ihn kennengelernt. Immer, wenn ich ihm begegnete, musste ihm allerhand durch den Kopf gehen, denn die Gesichtsröte war nicht nur von Sonne und Wind. Vermutlich ging er davon aus, dass die Ämter, solchen ich nicht verpflichtet war, bei kleinen Dingen sehr akribisch vorgehen. Wenn er von mir Geld für eine Leistung erhielt, wusste er nicht so recht, etwas mit der Quittung anzufangen. Er nahm sie entgegen in einer Art, bei der man sich später nicht so genau erinnern konnte, ob er sie an sich nahm oder ob sie mit den Abfällen von Blumen und Gebinden versehentlich entsorgt wurde. 
  Weil Weihnachtsgänse von der grünen Wiese hoch im Kurs standen beabsichtigte ich mich zu erkundigen, ob eine Gans auch ohne Vorbestellung zu haben sei. Für die Mast von Weihnachtsgänsen machte er überall von sich reden.
So erschien ich auf seinem Hof. Da er die neuen fiskalischen Gepflogenheiten so kurz nach dem Mauerfall noch nicht genau kannte, wie es sich für ein Schlitzohr gehört, begrüßte er mich unter Schweiß stehend mit herzlicher Distanz.
   Nachdem er sich mein Anliegen angehört hatte, streifte der mit allerhand Bauernschläue Ausgestattete das an ihm haftende Stroh oberflächlich ab und stiefelte ins Haus, seine Frau zu befragen.
   Ich vertrieb mir die Zeit auf dem etwas ungepflegten Bauernhof wobei ich bedauerte, dass das eigentliche Leben eines Bauernhofes nicht mehr zu erkennen war. Die Ställe waren leer, ein Seitengebäude teils für die schwangere Schwie-gertochter schon als Wohnung ausgebaut, die mitten auf dem Hof gelegene Miste war ausgetrocknet und bildete in dem Vierseitenhof mit den kräftigen, teils morastigen Fahrspuren einen kleinen Kreisverkehr. Mit einigen exotischen Topf-pflanzen versuchte er den Stallgeruch vergessen zu lassen, das ehemalige Ambiente bäuerlichen Daseins durch Elemente des aktuellen Zeitgeistes zu ersetzen.
   Währenddessen bellte unaufhörlich ein Hund. Bei näherer Betrachtung erkannte ich ein Tier, das den Verlust menschlicher Obhut verriet. Es sah erschreckend aus, verhielt sich auch so und war gerade zu dieser Zeit Herr eines Zwingers von nicht mehr als 2 mal 3 Metern Größe. Von der Redewendung „Hunde lieben die Bequemlichkeit“ keine Spur. Er bellte mit heißerer Stimme unerträglich laut. Ich kannte Hunde, die wohlerzogen waren und nicht bellten oder nicht bellten, weil ihr Wesen eben so war. Dass aber ein Hund keinen Laut von sich geben könnte, weil er wegen andauernden Bellens heißer war, war mir fremd, ging mir aber beim Anblick dieser Kreatur durch den Kopf.
   Der Zwinger befand sich in einer Ecke des Hofes, nahe der Eingangstür des eigentlichen Bauernhauses. Als ich sicher war, dass der Käfig tatsächlich verriegelt war, näherte ich mich ihm. Je näher ich kam, umso lauter bellte das Gestrüpp. Furchterregend gebärdete sich das Tier, das wohl glaubte, als Wachhund immer im Dienst zu sein. Und trotzdem: Bei aller Gefährlichkeit, die der Hund ausstrahlte, erregte er bei mir auch ein gewisses Mitgefühl. Meine innere Haltung war, dass man doch mit dem Hund kommunizieren könne, auf diese Weise es möglich sein müsste, ihn zu beruhigen. Mich niederbeugend, um eine unterwürfige Haltung anzudeuten, hoffte ich, das Tier beruhigen zu können. Es wurde aber immer schlimmer. Alle Gesten, beruhigende Worte, das Sprechen mit dem Hund, als sei er ein Mensch, all das half nicht. Er wurde immer aggressiver. Zähne hatte der Hund, einen Rachen, einen Atem – aus allem war unbändige Feindschaft zu erkennen. Ich beugte mich noch tiefer, stützte mich mit einem leichten Schauer von Gänsehaut auf meinen Knien ab und sagte ihm, er sei ein Lieber, er sähe gut aus, ich würde sein Herrchen gut kennen und mit ihm ein gutes Geschäft machen wollen. Es half nichts. Jetzt sah ich auch, dass die Holzlatten seines Zwingers auf der Innenseite mit allerhand Moniereisen verstärkt waren. Meine anfängliche Unruhe entwickelte sich nun doch zunehmend zu einer gewissen Aufgeregtheit. Die Situation wurde immer beängstigender. Da und dort Schaumfetzen am Gatter, eine seiner Pfoten war verletzt und ich selbst fühlte leichte Schweißausbrüche. Ein dumpfes Dröhnen entstieg seinem Maul. Mein Onkel war Hausmetzger. Ich erinnere mich. Als das Schwein ausgeweidet am Dreimast hing, steckten wir, weil Kinder immer neugierig sind, unsere Köpfe ein Stückchen in das Innere der noch nicht geteilten zwei Schweinehälften, konnten dann allerhand dummes Zeug plappern und ohne Maßregel zu erwarten „Du Sau“ sagen. Es gab keinen Widerhall. Wir konnten aber erahnen, was man unter Resonanzboden versteht. So etwas Ähnliches musste der Hund in sich haben.
   Der zähnefletschende kräftige Kopf erinnerte mich immer mehr an den Hund von Baskerville. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mich noch nicht viele Ärzte kennengelernt. Aber keiner von diesen deutete jemals an, ich könnte herzkrank sein, was mir wieder zu einer gewissen Gelassenheit verhalf. Da sah ich einen angetrockneten fleischigen Knochen seitlich des Zwingers. Vielleicht wird er auch hinsichtlich seiner Mahlzeiten nicht besonders zuverlässig betreut, so meine Gedanken. Mit einem Stock versuchte ich, als letzten Versuch der Beschwich-tigung, den Knochen durch eine Lücke des Gatters zu schieben. Das muss der auf mich wie ein Höllenhund Wirkende als Angriff gewertet haben. In seinem Toben, bei dem ich mir eine weitere Steigerung nicht mehr vorstellen konnte, sprang er in die Höhe, drehte sich dabei immer wieder um 180 Grad, kroch in seine Hütte, um sogleich mit neuer Entschlossenheit anzugreifen. 
Es half nichts. Keine Selbsterniedrigung, keine guten Worte, kein Leckerli.

   Mit einem Koloratursopran höchsten Registers soll es möglich sein, Gläser zerspringen zu lassen. Lautes Gebell kann Mauern zum Einsturz bringen und Staaten brechen lassen. Das habe ich damals sinnlich in seiner ganzen Tiefe erfassen können. Dieses Erlebnis auf einem vieh- und sinnentleerten Bauerhof erinnert mich noch heute an die Ereignisse der Jahre 1989/90. Seit einem viertel Jahrhundert kommt mir das nicht mehr aus dem Sinn.

   Mit einer abschlägigen Mitteilung erlöste mich der Kleinbauer, setzte sich in seinen PKW und fuhr ohne weitere Erklärungen eilig vom Hof.
   Der Ausweg führte durch ein altes verwittertes Hoftor, vorbei an einer uralten Linde, über eine moosbewachsene steinerne Brücke auf die Dorfstraße, entlang des Bächleins, das bei Starkregen schon viel Unheil angerichtet hat, durch die bereits abgeernteten Felder ins Freie. Auf einer Höhe, von der man das hügelige Erzgebirgsvorland mit erholsamem Blick überfliegen kann, hielt ich noch einmal an. Frische Luft tief einatmend wendete ich mich wieder meinen Pflichten zu und fuhr von dannen. 
   Das Gebell war leiser geworden. Ich höre es aber heute immer noch, in aller Herren Länder.

Neuigkeiten

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In Vorbereitung

Gebrochene Siegel

(Arbeitstitel)

oder 
Lachesis’ gestaltende Kraft

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Buch I

Trilogie

Gebrochene Siegel

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Buch II

Mors certa

 

 

Helmut Kleinschmidt

 

Gebor​en 1948 im südthüringischen St. Kilian. Hier träumerisch, spielend und um-sorgt aufgewachsen.

Seit 1975 im Großraum Leipzig beruflich tätig gewesen, berichtet über einen wechselhaften beruflichen Lebensweg.

Eigene Erfahrungen sind die Grundlage für einen kritischen und selbstkritischen Rückblick, der unterhaltsam zum Nachden-ken anregt.

(Auszüge auf den Unterseiten Gebrochene Siegel und

Mors certa.)

Von der geometrischen Primitive bis zur Kunst ist es nur ein kurzer Weg.

Ihn zu finden, das ist Kunst!

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© Helmut Kleinschmidt